Ungarn
Frühstückspause in Székesfehérvár, der Heimatstadt von Viktor Orbán. Alles unaufgeregt, fast schon nett für eine spontane Pause und zugleich nahezu austauschbar langweilig. Barocke Architektur und Secessionsstil prägen nicht nur diese Stadt, sondern gefühlt das architektonische Gesamtbild Ungarns. Dazwischen gähnende, flache Leere: Steppen, Wiesen, kleine Wälder und vereinzelte Gehöfte, verlassen oder auch nicht. Die meisten Menschen des Landes leben ohnehin in Budapest – dem nächsten Ziel unserer Reise. Entlang der Autobahn fahren wir durch sonnenvergilbte Monotonien und erdbraune Landschaften. Die Namen der vorbeziehenden Städte klingen – je nach Region – vertraut oder unaussprechbar. Ungarn, das Land der Mitte, das Land dazwischen. Historisch eingeklemmt zwischen Mitteleuropa und Osmanischem Reich, UDSSR und Jugoslawien, Christentum und Islam.
Wenn sich die Geschichte des Landes an einem Punkt kanalisiert, dann am Burgpalast in Budapest. Über die Jahrhunderte regierten hier die Könige. Sie verteidigten sich erfolgslos gegen die Osmanen und im Zweiten Weltkrieg nutzte die deutsche Wehrmacht das unterirdische Höhlensystem der Burg als Hauptquartier. Letztendlich hinterließen auch die Kommunisten ihre Spuren der Verwüstung.
Heute wird die Burg restauriert und ihre einstige Pracht wiederhergestellt. Es ist ein Prestigeprojekt, von Weitem sichtbar auf der höchsten Erhebung der Stadt. Nationalismus und ein verklärender Historismus helfen bei der Identitäsfindung.
Menschen drängen sich an das Geländer der Fischerbastei für ein Selfie mit der Donau und der gegenüberliegenden Pest-Seite im Hintergrund. Budapest zieht alle Arten von Touristen an: durchreisende Individualisten. Verliebte Pärchen, die ihren ersten gemeinsamen Urlaub verbringen. Jugendliche, die überhaupt ihren ersten Urlaub ohne Eltern verbringen. Städtereisende und Kurzurlauber. Europäer und Amerikaner, Asiaten wie Afrikaner. Kunstliebende und Foodies. Reisegruppen Ü70. Schulklassen. Abschlussfahrten. Familien, die vom Balaton kommen, und zwischen den Badetagen pflichtbewusst einen Tag Kultur abspulen.
Und die Stadt gibt all diesen Menschen genau das, wonach sie suchen könnten. Etwas Abgeschiedenheit und Trubel. Versiffte Hinterhofgassen und fürstliche Promenaden. Einen Markt voller Essen und am Ende doch nur touristische Ramschverkäufe. Eine Stadt, die Geschichte atmet und ein Land, das sich neu erfindet.
Eine riesige Halle, gebaut aus Glas und Stahl. An diesem Augusttag staut sich hier die Wärme. Touristenströme schieben sich durch die engen Gänge im ersten Stockwerk zwischen Souvenirshops und Essensständen hindurch. Gemüse und Obst stapeln sich zu bunten Haufen. Fleisch und Würste hängen von der Decke der Metzgereien. Liköre verbreiten den süßen Duft von Destillat und ein Mann rollt Teigbahnen für Baumkuchen aus.
Dieser Markt bedient gleichermaßen den Lebensmittelbedarf der Einheimischen und die Gier nach Fotomotiven und Ramsch der Urlauber. In den hinteren Gängen wird es ruhiger, fast schon verlassen gespenstisch. Zur Mittagszeit haben die Budapester ihre Einkäufe wohl unlängst erledigt. Zurück bleiben die Massen von Touristen. Ein schneller Blick in die Halle reicht ihnen aus – kaum einer von ihnen verirrt sich in ihr Herz.
Die Donau trennt die Stadt. Auf der einen Seite das majestätische Buda mit hochaufragender Burg. Auf der anderen Seite Pest – eine lebendige Stadt. Ihr Gesicht ist geprägt, wie könnte es anders sein, von all den Kulturen und historischen Ereignissen, die hier aufeinander trafen. Barock, Kommunismus, Islam und Judentum, Moderne und Altertum, Westen, Osten, Eleganz und Beton, Wasser, Erde und Lichter der Metropole. Wir entdecken eine verhalten rebellische Jugendkultur im Skatepark, christliche Herrschaftssymboliken und grau-klotzige Bauten aus Zeiten des sozialistischen Ungarns unter János Kádár. Hippe Cafés verkaufen ihre Kaffee-Kreationen in den Erdgeschossläden herrlicher Altbauten. Im Schatten alter Bäume sitzen Renter in den Parks der Stadt.
An der Kettenbrücke angekommen hören wir einen dumpfen Bass, eine verzerrte E-Gitarre und die Schläge einer Drum. Ein kostenloses Konzert vor einer kleinen Bar an der Donau. Ein paar Zuhörer haben sich um die Bühne versammelt. Die Musik ist experimentell, mutig, aber nicht gewagt. Sie ist nicht schlecht und das Publikum wird größer. Die Klänge mischen sich mit den Motorengeräuschen der vorbeifahrenden Autos. Die Hitze des Nachmittags lässt uns schwitzen und ist hier, am schattenlosen Donauufer, fast unerträglich. Es ist Zeit, weiterzuziehen.
Noch in Hörweite der Band stehen Schuhe am Donauufer. Es sind Paare ohne Füße, ohne Beine und ohne Körper. Der Mensch: Er fehlt. Es sind Skulpturen aus Metall, die an die Ermordung der ungarischen Juden Ende des Zweiten Weltkrieges erinnern. Ihre Leichen warfen die Nationalsozialisten in den Fluss. Die Menschen sind gegangen, nicht vergessen. Zurückgelassen haben Sie ihre irdische Habe.
Aus dem Boden steigt Sprühnebel. Das Licht wird gold, dann blau, während der Tag langsam verblasst. Die Hitze hat nachgelassen. Die Statue des Grafen Gyula Andrássy ist eine Replik des Originals, das nach dem Zweiten Weltkrieg zur Errichtung einer Stalin-Statue eingeschmolzen worden war. Budapest zeigt deutlich die Spuren der Vergangenheit, vom stetigen Wandel der Macht und dem am Ende doch homogenen Lauf der Zeit. Hier, vor dem Parlament, können wir frei reden. Niemand beobachtet oder überwacht uns. Und doch flirtet Ungarn mit totalitären Regimen und distanziert sich von der Europäischen Union. Ein Land der Mitte, ein Land dazwischen. Ein, Land, das nach sich selber sucht.
Vor dem Parlament wird es leerer. Morgen werden sich hier zum Nationalfeiertag Menschenmassen versammeln. Es wird ein gigantisches Feuerwerk über der Donau geben. Ungarn wird sich selbst zelebrieren. Dann werden wir Budapest schon verlassen haben.
Wir verlassen das Land nach Süden, Richtung Serbien. Es ist eine andere Region und doch sieht es so aus, wie fast überall: sonnenvergilbte Monotonien und erdbraune Landschaften. An einem Rastplatz halten wir an für eine kurze Pause. Eine Gruppe von Geländewagen mit deutschem Nummernschild hat am Rande der asphaltierten Fläche geparkt. Sie wollen weiterfahren, nach Osten.
Die Schilder entlang der Autobahn weisen auf Europa: Nach Österreich und Slowakei geht es in die eine Richtung. In die Staaten am Balkan in die andere. Ukraine und Rumänien bitte hier entlang, nach Serbien, Nordmazedonien oder gar Griechenland nach Süden. Auch der Kosovo mit seinem schwelenden Konflikt ist nicht weit. Und überhaupt: nach Istanbul sind es nicht einmal 1.000 Kilometer. Ungarn liegt zwischen den Welten.
Infos zu unserer Reise
Wir sind einmal quer durch Ungarn gefahren und haben uns dabei Budapest angesehen. Die Landschaften und die Orte, durch die wir kamen, waren nett anzusehen, wirkten aber alle sehr monoton. Wir lassen uns gerne eines Besseren belehren und werden auf dem nächsten Weg Richtung Osten sicherlich noch den ein oder anderen Halt in Ungarn machen.
Zumindest Budapest können wir für einen etwa dreitägigen Städtetrip empfehlen. Oft werden Wien und Budapest miteinander verglichen, wir empfinden die beiden Städte aber doch anders (auch wenn sie gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen). Wir schätzen, dass insbesondere Foodies und Geschichtsinteressierte in Budapest auf ihre Kosten kommen werden. Natürlich ist die Stadt auch ein schönes Ausflugsziel für Familien oder Pärchen. Auch wenn es nicht diesen romantisch-malerischen Vibe wie in Frankreich oder Italien gibt, hat die Stadt durchaus sehr schöne Plätzchen für Zweisamkeit zu bieten. Entspannt fanden wir, dass Budapest keine großen Anforderungen an uns stellte und seine Besucher nicht überfordert. Es ist keine Stadt wie New York, in der es viel zu viel zu entdecken gibt für einen Urlaub, und auch keine asiatische Metropole, bei der man vor lauter Autos, Skylines und Menschen nicht mehr Oben von Unten unterscheiden kann. „Alles kann, nichts muss“ könnte unser Motto für Budapest sein. Lasst euch durch die beiden Stadtteile treiben, von der unterschiedlichen Architektur begeistern und horcht in die Geschichte des Landes hinein. Nehmt euch Zeit für einen Kaffee und ein richtig ungarisches Mittagessen.
Statistisch gesehen ist Ungarn bedeutend günstiger als Deutschland. Das trifft bestimmt in den ländlichen, weniger besiedelten Gegenden des Landes zu. Und ja, Budapest mag, verglichen mit so manch anderer europäischen Hauptstadt, günstiger sein. Billig ist es dadurch noch lange nicht. Rechnet für eine Mahlzeit inkl. Getränken pro Person zwischen 10-15 Euro. Eine Hotelübernachtung in Budapest wird euch um die 100 Euro kosten, es gibt aber auch schlichte Zimmer (teilweise mit Gemeinschaftsbad) für deutlich weniger Geld. Sprit war zum Zeitpunkt unserer Reise sogar teurer als in Deutschland.
Jeder kennt das ein oder andere typisch ungarische Gericht, ohne je in Ungarn gewesen zu sein: Gulasch, Lángos, Paprikás, Kolbász oder Lecsó. Die Hauptzutaten sind oft Paprika, Zwiebeln und Fleisch. Viele Gerichte gibt es auch ohne Fleisch, oft zu finden unter den Beilagen. Als Vegetarier kommt man hier noch irgendwie durch – im Gegensatz zu den angrenzenden Balkanstaaten.
Wir persönlich, die die asiatische Küche mit ihren Geschmacksexplosionen, der unglaublichen Vielfalt an Zutaten, den gegensätzlichen Geschmacksrichtungen und den fein-ausbalancierten Nuancen lieben, konnten der ungarischen Küche nicht allzu viel abgewinnen. Hinzu kommt, dass wir uns nahezu ausschließlich vegetarisch ernähren. Zu oft empfanden wir die Gerichte als zu wenig abwechslungsreich und lieblos gewürzt. Wir vermissten ebenfalls einen kreativen Umgang mit der nationalen Küche, aber das ist eine andere Sache. Konkrete Empfehlungen von Restaurants, die uns umgehauen haben, haben wir leider nicht.
Noch eine Anmerkung zum Service in Ungarn: Vielleicht gibt es eine bestimmte, soziale Verhaltensweise, die man bei seiner Bestellung in Ungarn an den Tag legt. Jedenfalls wurden wir immer mit großen Fragezeichen angesehen, wenn wir im Restaurant eine Bestellung aufgaben. Manchmal machten die Kellner Witze, die wir nicht verstanden und uns ratlos zurückließen. Was auch immer das Geheimnis im Umgang mit Servicekräften in Ungarn ist – wir konnten es nicht lüften 😉
Da wir mit Kind und großem Auto, das in der Stadt in kein Parkhaus gepasst hätte, unterwegs waren, entschieden wir uns für ein Hotel außerhalb Budapests mit Swimmingpool. Das Petneházy Aparthotel war sauber, hatte im Zimmer alles, was man brauchte und das Frühstück war ebenfalls in Ordnung. Allerdings solltet ihr mit etwa 45-60 Minuten bis in die Innenstadt rechnen: 5-10 Minuten mit dem Auto zur Metrostation Hűvösvölgy und von dort ca. 30 Minuten zum zentralen Platz in Buda. Die Nacht hat uns hier rund 80 Euro gekostet. Tendenziell hätten wir es aber bevorzugt, stadtnäher zu wohnen.
Zumindest in Budapest nimmt die Installation von Überwachungskameras im öffentlichen Raum rasant zu. Abgesehen vom üblichen Taschendiebstahl in den Touristenzentren Budapests und am Balaton ist die Kriminalitätsrate auf einem normalen Niveau. Ihr habt also nichts zu befürchten. Auch abends fühlten wir uns überall sicher.
Allgemein ist Ungarn wohl ein beliebtes Reiseland bei Familien mit Kindern. Es gibt Kultur und Natur, allen voran der Balaton-See mit Hotels und Campingplätzen. Außerdem laden erstklassige Weinregionen zum Weintasting und auch Wandern ein. Dabei ist Ungarn in puncto Kinderfreundlichkeit vergleichbar mit Deutschland: Öffentliche Toiletten sind rar, Barrierefreiheit ist Glückssache und Wickelrräume sind lediglich sporadisch vorhanden. Dafür gab es zumindest in Budapest den ein oder anderen schön angelegten Spielplatz.
In Budapest könnt ihr relativ günstig eine Tages- oder Gruppentageskarte für den öffentlichen Nahverkehr kaufen. Das Bus-, Metro- und Straßenbahnnetz ist gut ausgebaut. Euer Auto lasst ihr am besten in einem Vorort stehen und fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in die Stadt. Beachtet, dass ihr auf Ungarns Autobahnen eine Maut zahlen müsst. Eine entsprechende E-Vignette könnt ihr ganz einfach und kurzfristig online auf der offiziellen Homepage kaufen.
Es gibt einige Bücher, die helfen, die politische Situation samt den vor sich gehenden Umbrüchen besser zu verstehen. Hier sind unsere Top 3:
- Arne Karsten erzählt auf schöne Weise in seinen historischen Geschichten vom Untergang der Kaiserlich und Königlichen Monarchie in Österreich-Ungarn im Buch Der Untergang der Welt von gestern: Wien und die k.u.k. Monarchie 1911-1919
- Eine hochaktuelle Analyse des modernen Staates Ungarns liefert Werner Patzelt mit Ungarn verstehen: Geschichte – Staat – Politik
- Der Schriftsteller György Dalos legt mit seinem Werk Ungarn in der Nußschale: Ein Jahrtausend und dreißig Jahre einen wunderbar geschriebenen Überblick zur Gesamtgeschichte des Landes vor – in nicht einmal 300 Seiten auf den Punkt gebracht