Tschechien
Tschechien ist immer für einen Kurzurlaub zu haben. Günstiges Bier und deftiges Essen, anrüchige Witze und alte Vorurteile. Manche davon stimmen noch immer, andere haben noch nie gestimmt. Chris Familie wanderte Ende der 1960er aus der Tschechoslowakei aus, um in Deutschland ein besseres Leben zu finden. Tschechien war für Chris immer ein Land, irgendwo im Osten, das hauptsächlich aus den Bildern und Erzählungen seiner Familie bestand. Ein Land wie aus einem Film – voller Gefahren und Gesetzlosigkeiten. Durchaus gab es das ein oder andere – Prostitution und Menschenhandel nach der Wende und dem Zerfall der Sowjetunion. Wer aber heute auf Tschechien blickt, sieht erst einmal ein voll und ganz europäisiertes Land mit Regeln und strengen Gesetzen. Tschechien hat seinen Weg in die Moderne gefunden. Das macht eine Reise in das Land an der Moldau sehr angenehm, auch wenn es nicht immer mit Superlativen beeindrucken kann.
Wo sonst sollte eine Tschechienreise beginnen, wenn nicht in Prag? Wie auch in Paris oder Ungarn richtet sich alles zur Hauptstadt hin: die Straßen, die Züge, die Menschen. Und tatsächlich ist Prag der Ort in Tschechien, wenn nicht sogar einer der Orte in Europa, den man in jedem Fall gesehen haben muss.
Die Karlsbrücke spannt sich über die Moldau. Ein eisiger Wind bläst, doch die Brücke ist so voll wie immer. Mit vor Kälte roten Fingern spielt eine Jazzband auf ihren Vintage-Instrumenten. Ein Teenager lässt sich als Cartoonfigur zeichnen. Tauben fliegen über einen Verkaufsstand mit historischen Stadtansichten Prags. Die Souvenirs sind aus der Zeit gefallen, sie laden ein zum Verweilen, Anschauen, Genießen.
Die Hundefigur unterhalb der Statue des heiligen Nepomuk berühren verspricht Glück. Wir drängen uns weiter – zwischen Rentnergruppen, partysuchenden Jugendlichen und Familien – zum anderen Ufer, der Kleinseite.
Ein Menschenhaufen vor dem Matthiastor. Soldaten in zeremonieller Uniform teilen die Menge und verschwinden in einem Seiteneingang. Der Wachwechsel kommt hier ohne den Pomp des Buckingham Palace aus. Neben der Flagge des Landes weht die der Ukraine im kalten Winterwind. Von hier oben überblickt man die Stadt. Das Panorama, das vor uns liegt, ist monoton. Keine Skyline, keine Glasfassaden. Nur ein Fernsehturm, typisch 80er Jahre futuristisch, ragt provokant über allem anderen auf.
In der Prager Burg haben sich vor allen Eingängen lange Schlangen gebildet. Unsere Füße werden kalt. Im Dom können wir uns einen Moment lang aufwärmen. Gotische Andächtigkeit. Leiden am Kreuz, sterbliche Überreste und Absolution. Wir sind keine Bewunderer christlicher Kirchen und ihrer himmelsstrebenden Architektur. Wieder draußen folgen wir dem Menschenstrom ins Goldene Gässchen. Aus allen Öffnungen der Häuser quellen Leute, verstopfen die Wege und Räume. Also so schnell es nur geht wieder hinaus – wir brauchen Raum zum Atmen.
Die John Lennon Wall ist der Prototyp des Instagramm-Feeds. „Give peace a chance“ samt John Lennons Porträt waren auf die unbefleckte Mauer gepinselt worden, nachdem der Künstler in New York erschossen worden war. Ein gewagtes Statement in einem repressivem, kommunistischen Staat. Weitere folgten: Bilder, Zitate, Hoffnungen auf ein besseres Leben, Wünsche. Beschwerden über die Regierung. Dann der Zusammenstoß von Protestlern und Sicherheitskräften. Der Fall der Tschechoslowakei. Meinungsfreiheit. Touristen, die kamen, um die Mauer zu bewundern. Sie kamen aber auch, um sich selbst zu verewigen. Letztendlich ist die Mauer zu einer Fläche der Projektion geworden. Zwischen John Lennon und Sinnhaftigkeit blühen sinnfreie Parolen und Banalitäten: „Ich war hier 2015“.
Im jüdischen Viertel hängen Plakate von den 240 Geisel, die Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 entführt haben. Vor der philosophischen Fakultät der Universität stehen tausende Kerzen und Blumen. Kurz vor unserer Ankunft hatte es hier einen Amoklauf gegeben. Das Leben, die Freude und die Zukunft sind fragil.
Auf dem Weihnachtsmarkt am Rathaus genießen Prager und Touristen die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr. Zu jeder vollen Stunde bildet sich vor der astronomischen Uhr am Rathausturm eine Menschentraube, um dem Spiel der tanzenden Figuren und dem Läuten beizuwohnen. Am Schluss tritt der Sensenmann auf. Er ist das Ende.
Raus aus Prag, hinein nach Nordböhmen. Teplitz gehörte zu Österreich, zur Tschechoslowakei, zum Deutschen Reich und nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich zur Tschechischen Republik. Die Architektur spricht Bände davon – wie eigentlich in ganz Westtschechien.
Die Randbezirke der Stadt sind grau und trist. Man erkennt in ihnen die Siedlungen des damaligen Proletariats. Heute sind manche der kleinen Wohngebäude renoviert worden, von anderen bröckelt grauer Putz. Schön ist allein der Stadtkern. Gedenktafeln erinnern daran, dass einst Johann Wolfang von Goethe und Ludwig van Beethoven hierher zur Kur kamen.
Mittagessen in einem Kellerrestaurant. Keine Touristen, nur Einheimische. Auf der Speisekarte stehen würzige Fleischgerichte und fettiger Backkäse. Eine Gruppe junger Erwachsener sitzt vor einer Ansammlung leerer Bierkrüge. Auf den stumm gestellten Fernsehern laufen Nachrichten. Familien und Renterpaare kommen und gehen. Sie werfen sich freundliche Blicke zu und murmeln Worte der Bergrüßung. Nichts Besonderes – eine ganz normale Kleinstadt eben.
Ein schöner, fast wolkenloser Tag vor Silvester. Wo die Eger über Jahrtausende eine Schleife in das Gestein gegraben hat, liegt die Burg Loket umgeben von einem kleinen Dorf. Eine malerische Kulisse vom Rathausplatz bis zum Burgturm. Die Gänge der Festung sind verwinkelt, der Ausblick weitläufig. Tief im Inneren liegen die Kerker und Folterräume. Entsetzliche Schreie vom Tonband. Es gibt keine Linie, die der Mensch nicht zu überschreiten wagte. Also lieber wieder zurück an die frische Luft: Im Burghof werden Heißgetränke und kleine Snacks verkauft. Mehr deutsche als tschechische Besucher. Flugzeuge ziehen ihre Kondensstreifen über den eisblauen Winterhimmel. Der Atem bildet Wölkchen in der Luft.
Nun ist er da, der Silvestertag. Wir haben uns in einem kleinen Apartment in Karlsbad einquartiert. Die Fußgängerzone zieht sich entlang der Eger. Ein Weihnachtsmarkt, ein Verkaufsstand für Oblaten. Überall werden Kurbecher angeboten. Heißes Wasser quillt aus dem Gestein, auf dem die Stadt errichtet ist. Dutzende Quellen, denen heilende Wirkungen nachgesagt werden. Und so pilgern die Kurgäste und Stadtbesucher von Trinkbrunnen zu Trinkbrunnen und schöpfen das vitalisierende und kurierende Nass. Warmer Dampf, die Luft sulfitgeschwängert.
Wir verlassen die Fußgängerzone. In einem Schnellimbiss hängen Jugendliche ab. Familien spazieren in den Vororten. Karlsbad ist aus der Zeit gefallen. Eine Aretalogie der Alternativen Medizin – ein Synonym für Heilfasten, Wasserkur, Homöopathie, Biodynamik.
Unspektakulär endet das Jahr und ein neues beginnt. Den Takt gibt der Kalender vor. Im Sonnenaufgang verlassen wir Karlsbad, verlassen wir Tschechien. Wer tiefer gräbt, erlebt eine dickköpfige und selbstbewusste Nation. Es gibt hier vieles, auf das man stolz sein könnte. Einen unendlich reichen Fundus an Kultur und Geschichte. Ein Land, das immer umkämpft war, dessen Herrscher stets wechselten. Eine Hauptstadt, die zu den lebenswertesten der Welt gehört. Tschechien hat keine Superlative zu bieten: nicht den größten See, den höchsten Turm, den tiefsten Canyon. Tschechien ist ein stilles Land, das sich am besten über seine Menschen entdecken lässt.
Infos zu unserer Reise
Wir bereisten Prag und Westtschechien zwischen Weihnachten und Silvester. Insbesondere die Hauptstadt war von Touristen überflutet. In den Sommermonaten ist es wohl genauso schlimm, daher empfehlen wir euch die Monate März, April oder Oktober, also die absolute Nebensaison, für einen Trip nach Prag. Wir schätzen, dass gerade der östliche Teil des Landes weniger touristisch ist und ihr hier noch mehr in die tschechische Kultur eintauchen könnt. Eine Tour durch Mähren steht auf jeden Fall auf unserer Reiseliste.
Alles in allem ist Tschechien ein sicheres, gut erschlossenes und sehr angenehmes Reiseland, das für jeden etwas im Repetoir hat: Wintersport, Wandern, Familienurlaub, Pub-Crawls, romantisches Sightseeing. Aber Achtung: Die Region um die Kurstädte in Böhmen (wie Karlsbad oder Marienbad) sind beliebte Ausflugsziele für deutsche Tagestouristen und Busrundreisen. Natürlich trefft ihr dort auch eine hohe Anzahl an Kurgästen. Im Durchschnitt werdet ihr also überwiegend älteren Leuten und Rentnern begegnen – dementsprechend sind die Angebote vor Ort ausgelegt. Nichtsdestotrotz sind es schöne Städte, wenn auch nach unserer Meinung nicht gerade besonders aufregend. Wir haben uns vor allem deswegen dafür entschieden, in diese Region zu reisen, da Chris Familie von hier kommt.
Im europäischen Vergleich ist Tschechien definitiv ein günstiges Reiseland – das merkt ihr gerade außerhalb der Hauptstadtregion.
Das Essen in Tschechien ist fettig und nährstoffarm. Wenig Gemüse, dafür umso mehr Fleisch und Weißmehl. Die meisten Restaurants, die wir besuchten, servierten bessere Fertiggericht wie zum Beispiel Kartoffelpuffer aus dem Gefrierschrank oder fertige Backkäse. Zu vielen traditionellen Gerichten werden Pommes serviert, was wir immer schade und kreativlos finden. Wir waren also von den „normalen“ Restaurants in Prag ziemlich enttäuscht, sodass wir schnell dazu übergingen, in unserem Apartment in Karlsbad selbst zu kochen.
Eine Empfehlung für Prag haben wir dennoch: Vegan’s Prague. Dort werden klassisch tschechische Gerichte auf moderne und wirklich tolle Weise vegan nachgekocht und weiterentwickelt. Nicht nur für Veganer eine absolute Empfehlung.
In Prag übernachteten wir im etwas draußen liegenden Hotel Hermes. Das Hotel ist ein Standardhotel mit sauberen Zimmern und guter Anbindung an die U-Bahn. Außerdem gibt es dort ausreichend große und kostenlose Parkplätze. Wir sind uns aber sicher, dass ihr außerhalb der Hochsaison günstigere und zentralere Unterkünfte finden werdet.
Prag ist zu bestimmten Zeiten eine überlaufene Stadt voller Menschen aus allen Ländern. Daher legt ein normales Maß an Aufmerksamkeit an den Tag, wenn ihr in den typischen Touri-Gegenden unterwegs seid. Ansonsten ist die allgemeine Sicherheitslage vergleichbar mit anderen mitteleuropäischen Ländern, wenn nicht sogar besser.
Wir trugen unseren kleinen Mann immer in der Trage mit uns – für uns die beste und flexibelste Lösung auf Reisen. Gerade in den überfüllten Straßen Prags wollt ihr nicht mit dem Kinderwagen unterwegs sein. Vergesst auch nicht, dass viele Gehwege und Straßen mit Kopfsteinen gepflastert sind, was ebenfalls gegen einen Kinderwagen spricht.
Die Tschechen erschienen uns allgemein etwas kühler und zurückhaltender als die Bewohner südlicher Länder. Wir machten keine besonders positiven oder negativen Erfahrungen beim Reisen mit Kind. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die touristische Infrastruktur gut ausgebaut ist und ihr keinerlei Probleme bekommen werdet, wenn ihr mit Kindern unterwegs seid. Im Gegenteil: Tschechien halten wir als besonders familientauglich, da ihr auf kleinem Raum viele unterschiedliche Aktivitäten finden werdet, die Erwachsenen wie Kindern gefallen (Burgen, spannende Museen zu jedem erdenklichen Thema, Outdooraktivitäten etc.).
In Tschechien fuhren wir mit Herrn Lux umher. Es gibt mautpflichtige Autobahnen, die wir nicht nutzten, und mal besser oder schlechter ausgebaute Landstraßen. In Prag gibt es einen hervorragenden Nahverkehr, sodass ihr getrost auch ein Hotel in den äußeren Stadtbezirken beziehen könnt, falls ihr etwas mehr Ruhe sucht. U-Bahnfahren kostet nicht viel und ihr gelangt ohne großen Zeitaufwand bequem zu allen touristisch interessanten Punkten.
- Auf eurer Leselist darf einer nicht fehlen: Franz Kafka. Seine bekanntesten Werke sind Die Verwandlung und Der Prozess
- Ein weiterer hervorragender tschechischer Autor ist Milan Kundera; gerade seine anfangswerlke behandeln auch das Leben in der Tschechoslowakei, so zum Beispiel Das Leben ist anderswo