Taiwan
Kaum ein Land ist so politisch umstritten, so kontrovers und so umkämpft wie die Insel Taiwan. Ein unaufgeregtes, hochmodernes und aufgeschlossenes Fleckchen Erde, das nur wenige Touristen anzieht, aber unter Kennern als einer der lebenswertesten Orte in Asien gilt. Taiwan ist nicht nur das Taipei 101 und ein „irgendwie“ chinesisches Land in Ostasien. Es ist ein wahrer Schatz an Kultur, Fortschritt, Zukunftsglauben, Natur, Kulinarik und Tradition. Ein Land in ständiger Alarmbereitschaft, in dem die Städte von Bunkern unterbaut sind, dessen Himmel Militärflugzeuge kreuzen. Und zugleich einer der sichersten Orte, die man nur finden kann.
Der Zug bringt uns vom Flughafen ins Zentrum von Taipei. Vorbei an grün überwucherten Hügelketten, Gewerbegebieten und langweiligen Vororten, schon werden wir mitten hineingeworfen in diese asiatische Stadt, die so sauber und aufgeräumt wirkt. Doch nicht allein Taipei empfängt uns, sondern gleich auch die große Geopolitik und Landesgeschichte.
Nach dem Check-in im Hotel genießen wir das Treiben im nahegelegenen „228 Peace Memorial Park“, einem der geschichtsträchtigsten Orte in der Stadt, von dem maßgeblich die Demokratisierung des Landes ausging. In einem selbstgebauten Verschlag hat sich die Künstlerin Panai Kusui verbarrikadiert. Es ist eine Protestaktion für die Rückgabe von illegal beschlagnahmtem Land der indigenen Bevölkerung durch die Regierung. An unserem letzten Tag in Taipei wird sie ihr Camp verlassen haben – mit Antritt der neuen Regierung endete ihre Aktion.
Während eine Formation von Militärjets über den Himmel braust, folgen wir den Klängen von archaischer Rockmusik. Am Presidential Office Building ist eine Bühne errichtet worden. Bands und Kameraleute proben den großen Auftritt nach dem Wochenende: Lai Ching-te wird das Amt des Präsidenten annehmen. Die Welt blickt auf diesen Tag – Festlandchina rasselt mit Säbeln und zeigt scharfe Zähne.
Diese Hauptstadt gefällt, wo sie nur kann. Motorroller schwemmen nicht die Straßen wie in Bangkok oder Hanoi, sondern fahren auf ausgewiesenen Spuren – geordnet und geregelt. Die öffentlichen Toiletten sind sauber und kostenlos. Es gibt gut ausgestattete Wickelräume, großartige Spiel- und Sportplätze. Überhaupt nahezu keinen Müll auf den Straßen. Die Gesellschaft ist offen: 2019 legalisierte Taiwan als erstes asiatisches Land die Ehe von Homosexuellen. Das Bildungssystem ist hervorragend, es existiert eine exzellente Gesundheitsversorgung und nahezu keine Kriminalität.
Es fällt schwer, Taipei in die Liste der von uns bereits besuchten Städte Asiens einzuordnen. Die Esskultur erinnert an Bangkok. Das allgemeine Setting an Hongkong. Der Zustand der Stadt an Singapur. Taipei ist schlichtweg einzigartig und vereint für uns das Schönste Asiens.
Die Tempel überraschen uns mit ihrer allumfassenden Willkommenskultur. Es gibt keine Kleiderordnung, keine Verbote. Die Luft ist erfüllt vom Rauch der Räucherstäbchen und dem Verbrennen von Geistergeld. Früchte, Kekse und Blumen werden den Göttern dargereicht. Drachen und Tiger wachen über die Irdischen. Wie so oft in Asien verschwimmen die Grenzen der Spiritualität: Buddhismus, Animismus, Hinduismus und Taoismus existieren im friedlichen Nebeneinander, vermischen sich und werden eins.
Besonders gut gefällt uns der Dalongdong Baoan Temple im Norden Taipeis. Nicht viele Besucher sind an diesem Sonntagmittag hier. Der Tempel liegt in der Einflugschneise des Stadtflughafens. Regelmäßig fliegt eine landende Maschine über unsere Köpfe hinweg. Trotz allem herrscht eine besinnliche und angenehme Atmosphäre. Wir setzen uns auf ein Podest und beobachten die betenden und ratsuchenden Gläubigen.
Der Tag der Amtseinführung des neuen Präsidenten ist gekommen. Die Straßen der Hauptstadt sind gefüllt mit Menschen – aus dem ganzen Land sind sie in großen Reisebussen gekommen. Kolonnen von schwarzen Limousinen und Polizeifahrzeugen bahnen sich ihren Weg durch das Treiben. Musik dringt aus den Lautsprechern, Hubschrauber und Kampfjets malen die Farben der taiwanesischen Flagge in die Luft oder ziehen gigantische Fahnen hinter sich her. Militärtransporter und Wasserwerfer. Taiwan zeigt sich wehrhaft.
Ein haushohes Regenpferd mit bunter Mähne rollt über den Asphalt. Als Nahrungsmittel verkleidete Menschen, Breakdance und Schulbands. Die Regierung möchte jung, modern, vielfältig sein. Das Land will sich in eine selbstbestimmte Zukunft stürzen, wachsen und gedeihen.
Am Horizont liegen Berge, wolkenverhangen. Autobahnen und der Tamsui-Fluss durchschneiden die Stadt. Mit dem Untergehen der Sonne fällt erst goldenes Licht auf die Häuser, bevor alles in dunkles Blau getaucht wird.
Vom Taipei 101 aus betrachtet, einst höchster Wolkenkratzer der Erde, sind wir mitten in Taipei und der Stadt zugleich so weit entfernt. Die fahrenden Autos unter uns, die Menschen, auf die Größe von Flöhen geschrumpft, und die kleinen Gebäude – all das ist ein Miniaturwunderland. Es begeistert für einen Augenblick, dann holt uns die Illusion ein.
Ein anderer Blickwinkel – eine andere Stadt? Das Panorama vom Elephant Hill müssen wir uns erkämpfen. Ein kurzer, aber steiler Treppenaufstieg führt den überwucherten Hügel am Rand von Taipei hinauf. Auf der Aussichtsplattform drängen sich Menschen, die ihren Smartphonebildschirmen mehr Aufmerksamkeit schenken als der beeindruckenden Skyline. Golden glänzt diese Stadt in der einbrechenden Dunkelheit. Ein schwarzer, düsterer Wolkenkratzer – noch nicht zu Ende gebaut – erhebt sich neben all den anderen bunten und leuchtenden Hochhäusern. Wären da nicht die zahlreichen Mücken, könnten wir Taipei von hier stundenlang bestaunen.
Wie geht ein Land mit seiner Vergangenheit um, wenn es einer Diktatur entwachsen ist? Es kann sie glorifizieren, sie in Museen und Geschichtsbüchern aufarbeiten oder es löscht die Vergangenheit nach und nach aus. Chiang Kai-Shek gründete einst Taiwan und regierte die Jahre bis zu seinem Tod mit eisernem Regime. Der Flughafen, Banknoten, Statuen, Straßennamen und die Chiang Kai-Shek Gedächtnishalle – also alles, was an den einstigen Diktator erinnerte – wurde umbenannt oder beseitigt.
Ein großer, leerer Platz inmitten der Hauptstadt trägt heute den Namen Liberty Square. Abends drehen hier Läufer ihre Runden und Jugendliche treffen sich in den gut ausgeleuchteten Gängen der Nebengebäude, um zu ihrer Musik zu tanzen. Ein historischer Ort in der ständigen Zerreißprobe von Machtpolitik und Symbolik.
Der hell beleuchtete Treppenaufstieg des Nationaltheaters. Eine verspiegelte U-Bahn-Passage. Die regenbogenfarbene Fußgängerüberquerung. Nachts werden all diese öffentlichen Räume zu Bühnen einer mutigen Jugend, die sich der Gesellschaft auf ihre Weise entgegenstellt. Sie will nicht zerstören, sondern auf dem bereits Geschaffenen aufbauen. Nahezu perfekt bewegen sich die Körper der jungen Erwachsenen zu den harten Beats aus den kleinen Boxen. Mit unerschöpflicher Detailversessenheit nähen sie Kostüme und tragen Make-up auf. Mit sturem Eifer treten sie ein für eine offenere, friedvolle Welt.
Das nächtliche Taipei lädt ein, gemeinsam mit seiner Jugend von der Zukunft zu träumen und dabei die Realität auszublenden.
Am späten Nachmittag werden so manche Straßen gesperrt. Shops werden errichtet, Gasflaschen angeschlossen, Früchte und Fleisch mit Eis gekühlt, bis die ersten Gäste kommen. Es dampft aus großen Töpfen, Fett spritzt aus den Woks, Grillkohlen knistern. In der Luft hängen in den Augen beißender Rauch und der Geruch von vielerlei Speisen. Die Nachtmärkte in ganz Taiwan sind gut besucht und die beste Anlaufstelle, um möglichst viel für wenig Geld zu probieren. Hier zeigt sich das Land erneut in seiner ganzen Offenheit – neben taiwanesischen und chinesischen Delikatessen gibt es italienisch, griechisch und selbst deutsch angehauchte Speisen. Nicht umsonst gilt die taiwanesische Küche als die beste und experimentierfreudigste der Welt.
Endlich fahren wir raus aus Taipei. Endlich nicht deswegen, weil wir genug von dieser Großstadt haben, sondern weil sie uns Lust gemacht hat, noch mehr von Taiwan zu entdecken.
Wir fahren durch die grüne Berglandschaft, die Taipei umrahmt, über Hochautobahnen und durch lange Tunnel. Umso näher wir dem Taroko Nationalpark kommen, umso sichtbarere werden die Zerstörungen des Erdbebens, das Hualien im April 2024 traf. Der Park mit seinen wunderschönen Schluchten und Canyons ist auf unbestimmte Zeit gesperrt. So lassen wir unsere Drohne steigen: Wir sehen einen kristallblauen Fluss, der sich durch hartes Gestein gräbt. Eine Straße, die sich in engen Kurven dicht an den Berg schmiegt. Grünen, undurchdringlichen Wald. Zu gerne wären wir durch die Schluchten des Taroko Nationalparks gewandert. Nun haben wir einen Grund mehr, Taiwan noch einmal zu bereisen.
Im Mai beginnt die Regenzeit in Taiwan. Sonnige Stunden wechseln sich mit regenreichen ab. Am Nachmittag unserer Ankunft zeigt sich Hualien wolkenverhangen, kurz darauf prasselt es herab. Am nächsten Tag erkunden wir die Stadt bei bestem Wetter.
Der Strand ist steinig und karg, der Lebensmittelmarkt zur Mittagszeit schon fast verlassen. Ein Hund wartet müde gähnend auf ein paar Brocken Fleischabfälle. Glückskatzen winken uns aus Schaufenstern und von beinahe jedem Tresen zu. Während die Werbeschilder der Stadt am Vorabend in der nassen Dunkelheit leuchteten und blinkten, damit unsere Sinne überforderten, wirken die Straßen bei Tageslicht verschlafen. Die meisten Geschäfte haben geschlossen. Wo auch immer die Bewohner Hualiens sind – nur wenige zeigen sich.
Kurz vor Taitung liegt die Sanxiantai-Brücke, die in acht Bögen das Festland mit einer kleinen, vorgelagerten Insel verbindet. Es ist ein diesiger Nachmittag. Eben erst zog ein Unwetter über uns hinweg und ständig droht ein weiteres. Es sind so gut wie keine anderen Besucher hier. Es ist schwül und tropenwarm, dennoch fühlen wir uns an Irlands grünen Norden erinnert. Der Kieselstrand, der raue Fels, das Salz in der Luft.
Einem Steg folgend erreichen wir die Inselmitte und damit das Ende des befestigten Weges. Ein schmaler Pfad – so aufgeweicht und unterspült vom Regen, dass wir ihn nicht gehen wollen – führt um einen Berg herum zu einem alten Leuchtturm. Stattdessen erklimmen wir einen Felsen und haben von dort einen magischen Ausblick auf dieses wunderschöne Stück Erde. Dieses Idyll entschädigt für das verregnete Hualien und den gesperrten Taroko National Park.
Eine andere Stadt, ein weiterer Strand. Zwischen rund gespülten Steinen wachsen zart blühende Bodenpflanzen. Ein offroadtauglicher Mitsubishi-Kleinbus steht am Ufer. Wir sehen diese Fahrzeuge im ganzen Land, sie sind der Golf unter den Geländewagen. Ein Angler hat seine Ruten ausgeworfen, in einem Plastikeimer hat er seine Lebendköder. Festlandchina hält ein großes Manöver ab. Die taiwanesische Luftwaffe ist in Alarmbereitschaft. Ein gigantischer Bomber braust nur wenige hunderte Meter hoch über Taitung hinweg. Kampfjets starten und landen im Minutentakt. Die Menschen am Strand, die Menschen in der Stadt – sie lassen sich dadurch nicht stören. Sie glauben nicht an einen bevorstehenden Krieg. Ist es naiv, optimistisch oder die Lehre aus Jahrzehnten friedlicher Vergangenheit?
Wir erreichen den tropischen Süden Taiwans. Im Kenting National Park treffen üppige Natur und Sandstrände auf Horden von Touristen. Gestylte, junge Erwachsene präsentieren ihre Luxuswagen auf der engen Beachroad zwischen Besucherströmen und den heiß qualmenden Ständen am Nachtmarkt. Sonnencreme und Banana-Boats, Schirme und Liegen. Ein kaltes Bier, Eiswürfel im Cocktail. Wir lassen all das zurück und fahren ins Hinterland. In einem großangelegten Park fotografieren wir wildlebende Affen, Schmetterlinge und Eidechsen. Eine kurze Autofahrt führt uns aus diesem dichten Waldgebiet in eine karge Steppenlandschaft. Eine Herde von Wasserbüffeln grast hier. Die Aussicht von einem sanften Hügel ist idyllisch: das Meer im Hintergrund, kleine Siedlungen im Tal. Ein einsamer Berg, ein alter Wald.
Wer der Hauptstraße entlang des Meeres folgt, erreicht einen kleinen Leuchtturm, nach einem kurzen Fußmarsch schließlich Taiwans südlichsten Punkt. Ein steinernes Monument – keine zweihundert Kilometer von hier liegen die ersten Inseln der Philippinen.
Umso näher wir der Millionen-Metropole Kaohsiung kommen, umso industrieller wird die Landschaft. Während wir die Ostküste als provinziell, beschaulich und naturnah wahrgenommen haben, erleiden wir nun einen Kulturschock. Superhighways, Staus, Hochhäuser. Unser Hotel liegt in einer schmuddeligen Gegend. Der nächste Morgen empfängt uns dazu noch mit Regenschauern. Im 7-Eleven versorgen wir uns mit Schirmen und Regenponchos – Taiwan im Mai ist ein Pendeln zwischen Sonnenschein und Unwetter.
Der Lotussee ist umsäumt von Hochhäusern im Osten, Tempeln und Altstadtvierteln im Westen. Drachen und Tiger wachen über den See. Aus den Eingangspforten der heiligen Stätten entweicht Rauch, die Luft am See ist erfüllt vom schweren Geruch der Räucherstäbchen und süßen Blüten. Alte Frauen sitzen an ihren Marktständen und verkaufen Obst und Talismane. Aus Lautsprechern dringt der Gesang einer Karaokesängerin – ein traditionelles Lied aus Taiwan. Wenige Passanten drehen die Köpfe, um zu lauschen.
Der Regen wird heftiger. Wir suchen Unterschlupf in einem Torbogen des Konfuziustempels. Als wir merken, dass der Regen in absehbarer Zeit nicht nachlassen wird, rennen wir zum Bus, der uns zurück in die Innenstadt fährt. Einen heißen Kaffee später ist der Regen zu einem sanften Nieseln abgeschwächt.
Kaohsiung ist eine Stadt der Gegensätze. Hochhäuser und schäbige Bauten wechseln sich ab. Moderne, ja fast schon hippe Läden stehen neben Altstadtvierteln mit Tempeln und traditionellen Geschäften. Kaohsiung ist nicht Taipei und hat auch nichts mit den beschaulichen Großstädten an der Ostküste zu tun, die wir bereits kennengelernt haben. Kaohsiung ist quirliger, verlebter, rauer, echter und voller Gegensätze.
Über einen schmalen Zugang im Westen der Stadt ist der Hafen für Schiffe zugänglich. Auf dem Festland in Sizihwan thront das ehemalige britische Konsulat, ihm gegenüber auf einer Insel der historische Leuchtturm. Vor der Küste ankern Kriegsschiffe. Kleine Boote und Frachter gleiten vom offenen Meer in den sicheren Hafen oder kehren ins Meer zurück. Ein stilles Treiben. Am Ufer des Hafens stehen verrottete Lagerhäuser und solche, die renoviert wurden und sich nun als modernisierte Glas-Stahl-Gebäude ans Wasser schmiegen. Schicke Cafés und Boutiquen. Wandmalereien und Industriearchitektur. Einer der Seitenkanäle wird von bunten Lichtern beschienen. Das Kaohsiung Music Center pulsiert im Rhythmus der Musik, die aus Lautsprechern schallt.
Wir verlassen die Metropolregion von Kaohsiung und fahren ins Hinterland. An einem Highway gelegen, erreichen wir das Fo Guang Shan Buddha Museum. Ein recht seltsamer Ort: Eine riesige Buddhastatue erhebt sich über heiligen Reliquien. Acht Türme, den edlen achtfachen Pfad symbolisierend, stehen am Rande eines freizügigen Geländes. Nonnen warten im Schatten der Gebäude auf die Fragen der Besucher. In einer klimatisierten Empfangshalle gibt es vegetarische Restaurants und Souvenirshops, Cafés und Sonderangebote. Kapitalismus und Buddhismus müssen keine Gegensätze sein. Im Zentrum des Areals ist alles auf Pomp und Staunen ausgerichtet. Farbig beleuchtete Kunstinstallationen, Hallen erfüllt von sphärischen Klängen, nackte Füße auf dem Teakholzboden. Religion funktioniert nur, wenn sie groß daherkommt.
Wir wollen noch einmal so richtig in die Natur. Also folgen wir immer schmaleren Straßen, die sich in die Berge hinauf schlängeln. Dicke Regenwolken hängen dicht über unseren Köpfen. Ein saphirblauer Fluss bahnt sich seinen Weg durch ein Tal. Eine Hängebrücke spannt sich darüber. In den hohen Bergen Taiwans gibt es solche Brücken in großer Anzahl. Unsere Drohne zeichnet ein atemberaubendes Video auf. Die ersten Regentropfen fallen und wir eilen zurück zum Auto. Nebel wallt über die Bergrücken und Wehmut ergreift uns. Bald werden wir Abschied von Taiwan nehmen müssen. Dabei haben wir so vieles nicht gesehen. Doch schon jetzt haben wir dieses mystische Land lieben gelernt.
Unsere Reise endet mit einem weiteren regenreichen Tag. Wir sind in Tainan angekommen, einer der ältesten Städte in Taiwan und ehemalige Hauptstadt. In Anping schlendern wir durch schmale Gassen. Einst hatte sich hier die Dutch East India Company niedergelassen. Noch heute dominiert das Fort Zeelandia das Stadtviertel. Alte Handelshäuser und Villen reicher Handeltreibender haben in seinem Schatten die Jahrhunderte überstanden. Abseits des nördlichen Damms erstreckt sich ein Nationalpark mit Flüssen, Teichen und Mangrovenlandschaften. Mücken surren in der Luft. Ein zugewucherter Bunker trotzt dem Wetter.
Auch in der Innenstadt Tainans liegt eine weitere niederländische Festung – Fort Provintia – umgeben von taoistischen Tempeln. Einer dieser Tempel ist der chinesischen Seegöttin Mazu geweiht. Zu Yue Laos Altar, in einer abgelegenen Kammer des Tempelkomplexes, pilgern all die nach Liebe und Seelenverwandtschaft Suchenden. Wir verstehen nichts von den Ritualen, der Symbolik oder den in der Vergangenheit liegenden Sagen. Wir sehen nur die Gläubigen, die sich hier hoffnungsvoll versammeln, die großen Fragen des Lebens im Kopf: Gesundheit, Reichtum, Liebe. Die menschliche Existenz lässt sich wohl auf das Streben nach diesen drei Begriffen herunterbrechen.
Es dämmert. Noch ist der Himmel klar, aber in wenigen Minuten werden dicke Tropfen auf uns herab prasseln. Werbeschilder und Lampions leuchten uns den Weg. Ein kurzer Abstecher in die Snail Alley, ein Blick in den historischen Hayashi Department Store.
Etwas später starren wir hinaus auf die Pfützen und den Regen. Die Nacht kommt schnell in Taiwan. Auf Holzschemeln sitzend schlürfen müde Gesichter Nudelsuppe. Fernsehbildschirme zeigen bunte Werbespots. Ventilatoren drehen sich unermüdlich. Taiwan, das ist ein asiatischer Mikrokosmos. So viel Kultur auf engstem Raum.
In zwei Wochen einmal um den Inselstaat Taiwan. Das Wetter hat nicht immer mitgespielt. Dafür haben uns die Weltoffenheit der Taiwanesen und ihre angenehme, freundliche und einladende Kultur umso mehr überrascht. Als wir unseren Mietwagen am Flughafen abgeben, informiert uns der Angestellte am Schalter, dass die Maut aller Autobahnfahrten bereits von unserer Kreditkarte abgebucht worden sei. Strafzettel hätten wir keine zu begleichen. Welch wahnsinnige Effizienz, mit der solcherart Verkehrsdaten in Windeseile zur Verfügung gestellt werden.
In der stickigen Abflughalle erinnern wir uns an die nebligen Hügel im Hinterland, die geschwungene Brücke an der Sanxiantai-Insel, das wolkenverhangene Taipei 101, den beißenden Rauch der Tempel, die menschenvollen Nachtmärkte, die tropisch-würzige Luft von Kenting. Taiwan, wir werden wiederkommen.
Infos zu unserer Reise
Allgemein besuchen eher wenige westliche Touristen Taiwan – und wenn, dann in der Regel lediglich Taipei als Zwischenstopp zum eigentlichen Urlaubsland. Die wenigen Westler, denen wir begegneten, waren Expats oder Austauschstudenten. Gerade für einige umliegende asiatische Länder, wie die Philippinen, ist Taiwan ein beliebtes, weil günstiges, Reiseland. Und gerade deswegen und auch zahlreicher anderer Gründe waren wir von Taiwan begeistert: Selbst die schönsten Orte waren nie überlaufen. Wir konnten tief in die Kultur eintauchen und wurden immer sehr freundlich und interessiert empfangen. Es gibt hervorragendes (vegetarisches) Essen, die Preise sind relativ niedrig, die Infrastruktur ist hervorragend und überhaupt ist Taiwan ein modernes und gesellschaftlich hoch entwickeltes Land. Insbesondere das Reisen mit Kind hätte komfortabler nicht sein können.
Für europäische Verhältnisse ist Taiwan ein sehr günstiges Reiseland, aber im Vergleich zu Südostasien etwas teurer. Bei Essen könnt ihr richtig Geld sparen, während Hotelübernachtungen je nach Region und Reisezeitraum beinahe an europäische Preise herankommen. Von A nach B kommt ihr ebenfalls relativ preiswert, aber auch hier kann der Reisezeitraum entscheidend sein.
Taiwan bietet euch alles: jede erdenkliche regionale Küche bis hin zu Fusionspeisen aus aller Welt. Am verbreitesten sind natürlich chinesische Gerichte wie Dim Sum oder Nudelsuppen. Wer günstig essen möchte, findet entsprechende Angebote auf den Nachtmärkten oder in kleinen, modernen Noodleshops. Sehr beliebt sind Shabu Shabu Restaurants, die eine Art Fondue servieren, in dem man Gemüse, Tofu und Fleisch garen lässt. In Taitung entdeckten wir zufällig das Shabu-Restaurant 千葉火鍋-台東尊爵館, in dem ihr für nicht einmal 20 Euro pro Person so viel essen und trinken könnt, wie ihr wollt. Auch für Vegetarier gibt es dort ein riesiges Angebot!
Zu den Nachtmärkten sei gesagt, dass man dort zwar günstiges und recht unterschiedliches Essen findet, wenn man allerdings nach vegetarischen Gerichten sucht, ist die Auswahl eher begrenzt und es fehlt etwas an Abwechslung bzw. man landet dann schnell bei europäischen Klassikern (Pizza, Nudeln, Fish & Chips).
Stichwort Vegetarisch essen: das funktioniert in Taiwan eigentlich hervorragend. In jeder Stadt gab es mindestens ein sehr gutes Restaurant, das sich auf vegetarische oder vegane Speisen spezialisiert hat. Gerade die Aufbereitung von Tofu erlebt ihr hier in Meisterklasse. Empfehlenswert ist bspw. in Kaohsiung das 美蔬齋, welches leckere Currys anbietet. Und falls ihr mal etwas anderes probieren wollt in Kaohsiung, dann legen wir euch Pooja’s Indian Restaurant ans Herz, auch für Vegetarier eine echte Empfehlung.
Obwohl Taiwan in Sachen Kulinarik wohl so einiges zu bieten hat, müssen wir an dieser Stelle gestehen, dass 7-Eleven zu einem der von uns am meisten besuchten Läden zählte. Wenn alle Restaurants bereits geschlossen hatten, es keine Nachtmärkte gab, wir auf der Fahrt zufällig an einem vorbei kamen, unser kleiner Mann von plötzlichem Hunger befallen wurde, wir eine Kaffeepause machen wollten oder … die Liste ließe sich noch erweitern. Kurzum: Bei 7-Eleven fanden wir immer einen Snack und Kaffee (zur Not auch mal ein Mittagessen), auch für unseren Sohn gab es Joghurt und Bananen. Die Attraktivität des 7-Eleven-Konzepts besteht gerade in seiner landesweiten Omnipräsenz sowie der Verfügbarkeit von eigentlich allen Dingen, die man brauchen könnte.
In Taiwan eine schöne und nicht allzu teure Unterkunft zu finden, fanden wir gar nicht so leicht. Die günstigsten Unterkünfte bieten in der Regel einen schlechten Standard, sind fensterlose, winzige Zimmer und haben – wenn überhaupt angeboten – nur ein einfaches Frühstück dabei (bestehend aus Weißbrotsandwich). Wer eine bessere Unterkunft mit guter Anbindung oder Lage in den Großstädten sucht, zahlt fast schon europäische Preise – dafür bekommt man dann auch mehr geboten wie für den gleichen Preis in Europa. Rechnet mit 50 bis 100 Euro für eine Nacht. Großartig: Fast jede Unterkunft hatten einen Waschraum mit Waschmaschinen und Trocknern – völlig gratis. Die folgenden Hotels unserer Reise können wir empfehlen:
- Taipei: Hineon Hotel (nahe am Hauptbahnhof gelegen, gute Anbindung, saubere Zimmer)
- Taitung: 門廷若室 ・ 河堤左岸館 (etwas außerhalb des Stadtzentrums, dafür ebenfalls saubere und originell eingerichtete Zimmer)
- Kenting: Mamalulu (die schönste Unterkunft unserer Reise; abseits der Hauptstraße im Grünen gelegen, wunderschöne Zimmer, großartiges Frühstück und ein hübscher Garten hinter dem Haus – das kleine Hotel wird von einer sehr netten Familie geführt)
Wenn man die Nachrichten zu Taiwan verfolgt, käme man nicht unbedingt auf die Idee, den Inselstaat als eines der sichersten Länder der Welt zu bezeichnen. Tatsächlich sollten die vermeintlichen „Gefahren“, die einen in Taiwan erwarten, richtig einsortiert werden.
Grundsätzlich schwingt natürlich immer die latente Bedrohung durch Festlandchina mit – in sehr regelmäßigen Abständen hält China Manöver vor dem Inselstaat ab und die militärische Präsenz im Land ist allgegenwärtig. Dennoch gab es bislang keine offensiven Auseinandersetzungen und es ist nicht abzuschätzen, ob es kurz- oder langfristig dazu kommen könnte. Für Touristen geht unserer Meinung keine Gefahr hiervon aus.
Realer sind dagegen heimische Gifttiere wie Schlangen oder Spinnen. Denen werdet ihr aber eher nicht in den Städten oder Touristenattraktionen begegnen, eher in verlassenen Gegenden oder im Gebüsch. Dazu kommen noch Naturgefahren durch Tsunamis oder Erdbeben. Hierbei hat Taiwan in der Vergangenheit aber immer wieder bewiesen, dass es gut auf solche Katastrophen vorbereitet ist und ein gutes Frühwarnsystem besitzt.
Was die Gefahren des Alltags angeht, denen ihr als Tourist viel eher ausgesetzt seid, können wir komplette Entwarnung geben. In ganz Taiwan ist die Kriminalitätsrate vernachlässigbar. Es gibt kaum Diebstähle oder Raubüberfälle. In keiner Minute fühlten wir uns bedroht oder unsicher. Ihr werdert kaum ein sichereres Reiseland finden.
Ohne Übertreibung können wir sagen, dass Taiwan das kinderfreundlichste Land ist, das wir jemals bereist haben. Das fängt bei den Leuten selbst an, die uns und unserem kleinen Mann freundlich-aufgeschlossen begegneten und viel Verständnis mitbrachten, wenn er einmal nicht so gut drauf war. Darüber hinaus waren wir von der Infrastruktur begeistert: Jedes Restaurant hatte Kinderstühle und Wickeltische. Öffentliche Toiletten waren überall kostenlos vorhanden und grundlegend sauber. Oftmals gab es neben Wickelräumen sogar schön eingerichtete Stillräume mit Sitzecke, Mikrowelle und Spülbecken. In allen von uns besuchten Städten fanden wir öffentliche Parkanlagen, Sportplätze und wunderschöne Spielplätze, die in einem einwandfreien Pflegezustand waren. Es gab nicht nur eine Rutsche und Schaukeln, sondern wirklich ausgefallene Klettergerüste, Spiellandschaften, Seilbahnen etc. Sehr häufig gab es sogar Spielgeräte, die extra für behinderte Kinder eingerichtet waren! Abgesehen davon war jeder Bahnhof und jede Treppe über Rampen oder Aufzüge zu umgehen. Kurzum: So viel Inklusion und Kinderfreundlichkeit hätten wir nicht erwartet.
Taiwan ist Asien und in Asien kommt ihr erfahrungsgemäß leicht von A nach B. Da wir mit Kind reisten und auch viele Sights abseits der großen Städte besuchen wollten, wollten wir maximal flexibel sein und buchten einen Mietwagen. Die Preise hierfür unterscheiden sich stark je nachdem, wie frühzeitig ihr bucht und in welchem Reisezeitraum. Demgegenüber steht die Möglichkeit, mit Bussen oder der Bahn zwischen den Städten zu reisen und für einzelne Ausfllüge einen Roller oder ein Auto zu mieten. Gerade an der Westküste ist das Schienennetz sehr gut ausgebaut und in wenigen Stunden fahrt ihr mit dem Hochgeschwindigkeitszug von Taipei bis nach Kaohsiung in den Süden. Das kostet nicht die Welt und ist komfortabel. Natürlich könnt ihr euch auch geführten Touren anschließen.
Wir empfehlen euch den Kauf einer Karte für den Öffentlichen Nahverkehr. Ihr könnt damit in allen taiwanesischen Städten Metro und Bus nutzen und sie an allen Haltestellen aufladen.
Noch ein kurioser Fakt, wenn ihr mit dem Auto unterwegs seid: Jede Stadt hat ein etwas anderes Bezahlsystem für die Parkgebühren. Wir erlebten es aber meistens so, dass ihr das Auto in einem gekennzeichneten Bereich einfach abstellt. In regelmäßigen Zeitabständen kommt ein Parkwächter vorbei und heftet euch bei seiner ersten Runde einen Zettel an die Windschutzscheibe. Jedes Mal, wenn er erneut an eurem Auto vorbeikommt (also etwa jede halbe Stunde), gibt es einen Strich, dementsprechend mehr müsst ihr bezahlen. Und das erledigt ihr – wie fast alles in Taiwan – in einem 7-Eleven. Landesweit.
- Zur allgemeinen Vorbereitung lasen wir die Gebrauchsanweisung für Taiwan: Faszinierender Reiseführer zur Identität und Geschichte der grünen Insel von Stephan Thome
- Stephan Thome hat auch einige Romane verfasst, die in Taiwan spielen – uns gefiel Pflaumenregen gut
- Mit im Gepäck hatten wir den POLYGLOTT on tour Reiseführer Taiwan