Irak

Bilder von 9/11, den Kämpfen in Falludscha, der Gefangennahme von Saddam Hussein – all das hatte die Vorstellungen unserer Generation über den Irak tief geprägt. Nach dem Arabischen Frühling hatte der Islamische Staat den Nahen Osten erschüttert. Syrien und der Irak galten als die Hochburgen der terroristischen Organisation, Mossul und Palmyra waren Orte der vollkommenen Zerstörung, die um die gesamte Welt gegangen waren. Bis heute bleibt die Sicherheitslage im Irak volatil, angrenzende Nachbarländer tragen auf seinem Staatsgebiet ihre Konflikte aus. Seit dem 7. Oktober 2023 ist die Lage im Nahen Osten erneut eskaliert. Trotz allem hat sich die Situation im Irak einigermaßen stabilisiert, immer mehr Touristen erkunden Bagdad oder den südlichen Irak – vor wenigen Jahren noch absolutes No-go-Area.

Als wir 2017 von Kuwait in das iranische Chorramschahr mit dem Boot gereist waren, waren wir entlang des irakischen Ufers gefahren – alte Bunkeranlagen und gekenterte Kriegsschiffe aus den Golfkriegen hatten uns sprachlos zurückgelassen. Hinter diesen Kriegsrelikten lag eine trügerische Marschlandschaft. Unbedingt wollten wir wiederkehren und mehr von diesem Land sehen.

Die Reise in den nördlichen Irak – in die autonome Region Kurdistan – gehört zu den spannendsten und aufregendsten Reisen von uns. 2019 war dies die einzige Region des Iraks, die als relativ sicher galt. Auf den ersten Blick war es eine uns gänzlich fremde Welt, die wir da betraten. Nach nur wenigen Tagen erkannten wir, dass uns diese Welt doch näher stand, als es geschienen hatte. 

Dukan Lake in Northern Iraq

Als unser Flugzeug auf der Landebahn in Erbil aufsetzt, beschleicht uns ein dumpfes Gefühl. War es die richtige Entscheidung, herzukommen? Plakate am Flughafen warnen vor terroristischen Aktivitäten und rufen dazu auf, jeden Verdacht umgehend zu melden. Mit dem Bus fahren wir aus der Green Zone, der hermetisch abgeregelten Sicherheitszone, die um das Flughafengelände liegt. Wir sind die einzigen Ausländer und werden es in den kommenden Tagen auch bleiben. Dutzende Augenpaare mustern uns.

In der Wartehalle treffen wir auf Abdullah. Wir haben ihn über Couchsurfing kennengelernt und sofort hat er sich dazu bereit erklärt, uns während unseres Aufenthaltes zu helfen und sein Land zu zeigen. Wir steigen in seinen riesigen SUV. Wer ist dieser Mann? Ist er wirklich nur ein freundlicher Helfer? Er sagt, er arbeite für die Botschaft einer Regierung (die wir hier bewusst nicht nennen). Kurzer Smalltalk, während der Fahrt, dann lässt er uns vor unserem Hotel aussteigen. Wir verabreden uns für ein gemeinsames Abendessen. „Die Stadt ist sicher, ihr könnt euch hier frei bewegen“, ruft er zum Abschied.

Also los. Bei über 50° Celsius ist die Stadt wie leer gefegt. Geschäfte haben geschlossen, kaum ein Passant oder Auto auf den Straßen. Wir finden einen kleinen Laden, der uns Sandwiches serviert, dann laufen wir zur Zitadelle von Erbil. Noch mehr ausgestorbene Straßen, leere Häuserfronten. Gespenstisch. Eine Mall ist mit notdürftigen Barrikaden verriegelt. Möbel und Absperrgitter stehen vor dem Haupteingang. Dann erkennen wir vermummte Männer. Sie tragen Schutzwesten und schwere Sturmgewehre. Wir machen einen weiten Bogen um die Mall und stoßen wenig später auf eine zweite, ähnlich bewachte Einkaufsstraße. Es heißt, die Sicherheitslage in Kurdistan sei so gut, da die Sicherheitsvorkehrungen ausgezeichnet seien. Später erfahren wir, dass die Soldaten öffentliche Plätze vor Bombenlegern bewachen, wenn die Läden geschlossen haben.

Wir erreichen das historische Herz der Stadt. Erbil ist die am längsten bewohnte Siedlung der Erde. Seit es Zivilisation gibt, haben sich hier Menschen niedergelassen. Wir überqueren einen beeindruckenden Platz mit Wasserspielen. Die Zitadelle selbst besteht aus uralten Mauern und Wachtürmen. Überall wohin wir gehen verfolgen uns Blicke. Ein Mädchen aus Bagdad – mit ihren Eltern ist sie hier zu Besuch – möchte ein Selfie mit uns. Immer wieder kommen junge Männer, unterhalten sich mit ein paar Brocken Englisch mit uns, geben Chris die Hand und zücken ihre Handys für ein gemeinsames Foto. Bleiben wir zu lange stehen, sammelt sich binnen weniger Minuten eine Traube von dutzenden (!) Männern um uns. Es fällt uns schwer, einzuordnen, wo Neugierde und Gastfreundschaft enden und unangemessenes Bedrängen anfängt. Schnell ziehen wir weiter.

Water Fountains in Arbil
Water Fountains in Arbil
Arbil Downtown at Night

Es ist so heiß, dass wir kaum zweihundert Meter laufen, bevor wir einen großen Schluck Wasser trinken müssen. Zum Glück gibt es überall kostenlose Trinkwasserspender.

Wir gelangen zu einem Park mit verdorrter Rasenfläche. Es ist Nachmittag geworden und die ersten Menschen trauen sich ins Freie. Gruppen von Männern und Familien. Frauen sehen wir nur in Begleitung ihrer Eltern. Vereinzelt auch junge Pärchen. Sie lassen sich von Fotografen mit altertümlichen Kameras ablichten. Überall gibt es Snacks oder Spielzeug für Kinder zu kaufen, eine Seilbahn zieht sich durch die Baumwipfel des Parks. Stillgelegte Brunnen, wenig Schatten. Auf der Erde picknicken Familien. Sie grillen Fleisch und rauchen Wasserpfeifen. Ihre Blicke verfolgen uns, wohin wir auch gehen. Langsam fallen die Nervosität und das Unbehagen von uns ab. Wir beginnen uns, sicher zu fühlen.

Kurz darauf treffen wir unseren neu gewonnenen Freund Abdullah. Gemeinsam fahren wir in einen Außenbezirk von Erbil und essen zusammen mit seinem Bekannten aus Basra in einem italienischen Restaurant zu Abend. Es gibt hervorragende Pasta, dazu eine Wasserpfeife, die uns wie Cannabis sofort in den Kopf steigt und unsere Sinne dämpft. Wir erfahren viel über das Land, die Kultur und das „wilde“ Kurdistan, das gegen alle Widerstände eine autonome Region sein möchte.

Mosque in Arbil

Am nächsten Morgen holt uns Abdullah vor unserem Hotel ab. Die Sonne steht schon hoch und gnadenlos brütend über uns. Zusammen mit seinem Cousin fahren wir Richtung Soran in die Berge. Dabei folgen wir der historischen Hamilton Road, die der namensgebende neuseeländische Ingenieur A. M. Hamilton vor etwa 100 Jahren durch die Schluchten des kurdischen Gebirges bauen ließ. 

Wir stoppen in einem kleinen Dorf und nehmen in einem Lokal ein typisches Frühstück ein: Joghurt, frisches Brot, Käse, Oliven und ein Brei aus Kichererbsen. Dazu süßer, schwarzer Tee. Gestärkt folgen wir einem eisblauen Fluss immer weiter zur iranischen Grenze. Immer wieder müssen wir anhalten, weil die Landschaft so atemberaubend schön ist. Tiefe Canyons, hohe Felswände. Im Frühling soll hier alles grünen und erblühen. Jetzt, im August, ist der Boden ausgetrocknet und staubig. Am Bekhal Wasserfall machen wir Rast für ein ausgedehntes Mittagessen und eine Wasserpfeife. Der Wasserfall ist ein beliebtes Ausflugsziel. Dicht an dicht drängen sich Kinder und Männer, um sich im kühlen Nass zu erfrischen. Die Frauen warten im Schatten der Bäume. Es gibt Eisverkäufer und Souvenirläden. Doch die größte Attraktion sind wir selbst.

Am Nachmittag hat Abdullah noch eine Überraschung für uns: Spontan lädt er uns ein in das Haus seines Onkels, der dicht an der iranischen Grenze wohnt. Dort werden wir wie Könige empfangen und bewirtet. Nüsse, Baklava und Schokolade werden serviert. Wir fragen nach dem Leben hier in diesem Dorf in den kurdischen Bergen. Wir fragen nach dem Leben im Irak im Allgemeinen. Abdullah übersetzt für uns. Immer wieder wird Tee eingeschenkt. Wir bedanken uns herzlichst, als wir nach etwa einer Stunde das Haus verlassen. 

Bevor wir nach Erbil zurückkehren, fahren wir hinauf auf ein Felsplateau. Hier oben wurde ein kleiner Vergnügungspark errichtet. Große Reisebusse aus Bagdad parken hier. Die Busse wurden einst aus Deutschland importiert, das deutsche Nummernschild hat man nicht entfernt. Die Sonne nähert sich dem Horizont, bald wird sie untergehen und dieses zerklüftete und bergige Land in Dunkelheit tauchen.

Hamilton Road in Kurdistan
Hamilton Road in Kurdistan

Moscheen bestimmen das Gesicht der Städte. Es gibt die Kleinen, mit einem winzigen Minarett und einem Gebetsraum, gerade so ausreichend für eine handvoll Menschen. Es gibt die Riesigen, mit goldenen Kronleuchtern, handgewobenem Teppich und Platz für tausende von Gläubigen. Es gibt Zerfallene in kaum bewohnten Gegenden und es gibt die Neuen, klimatisiert, mit makellosen Sanitäranlagen. 

Im Licht der Abendsonne besuchen wir die Rashad Mufti Moschee in einem Außenbezirk von Erbil, direkt neben einer mehrspurigen Stadtstraße. Der Marmorboden spiegelt den rot-brennenden Abendhimmel. Müde Männer kommen zum Gebet. Sie mustern uns neugierig, dann verschwinden sie im Inneren der Moschee. Wir genießen die Ruhe des Ortes, trotz der vorbeirasenden Autos. Der Gesang des Muezzins setzt ein.

Danach der religiöse Gegensatz: Pizza in einer Shopping-Mall. Die heiligen Hallen des Kapitalismus bieten materielles Glück im Hier und Jetzt. Die perfekte Ergänzung zum ewigen Seelenfrieden im Jenseits.

Rashad Mufti Mosque in Arbil
Rashad Mufti Mosque in Arbil

Am Morgen fahren wir mit dem Taxi zum Flughafen – nicht, um die Rückreise anzutreten, sondern um einen Mietwagen auszuleihen. Nachdem wir durch zahlreiche Sicherheitsschleusen und Kontrollen durch sind, stehen wir beim Autoverleiher. Gebucht haben wir einen Kleinstwagen. Der Mann am Schalter sagt, so etwas habe er nicht. Wir bekämen ein kostenloses Upgrade. Mit einem riesigen Toyota Fortuner Geländewagen machen wir uns kurz darauf auf den Weg in die Stadt Sulaimaniyya.

Der Weg führt durch karge Wüste. Immer wieder tauchen plötzlich – ohne jegliche Hinweisschilder – tiefe Gruben in der Straße vor uns auf: ungesicherte Baustellen. Wir passieren zahlreiche Grenzkontrollen der Peschmerga, werden mal eingehend untersucht, mal einfach durchgewunken. Sulaimaniyya selbst ist eine Millionenstadt – doch an diesem Mittag erscheint sie uns wie ein Dorf. Der Markt ist gut besucht, der Verkehr dicht. Dennoch sind die Seitenstraßen friedlich, viele Orte sind menschenleer. Zuerst steuern wir das Kriegsmuseum an. Alte Panzer aus dem zweiten Golfkrieg. Die Verfolgung der Kurden wird in eindrücklichen Bildern erzählt. Der Kampf gegen den IS wird heroisiert. Sulaimaniyya blieb von den Kämpfen verschont. Viele Menschen flohen aus Kirkuk und den umliegenden Regionen hierher.

Zum Mittagessen kehren wir in ein Schawarma-Restaurant ein. In Sulaimaniyya, so haben wir das Gefühl, werden wir weniger bedrängt und angestarrt. Obwohl die Stadt gewiss nicht mehr ausländische Touristen sieht als Erbil, fühlen wir uns hier nicht so sehr als bunte Hunde.

Road to Sulaimaniyya
Amna Suraka, Red Museum in Sulaymaniyah
Amna Suraka, Red Museum in Sulaymaniyah

Es ist später Nachmittag geworden. Am Horizont zieht eine Gewitterfront auf. Wir schlendern über sandige Straßen durch ein kleines Dorf am Ufer des Dukan-Sees. Ein riesiger Staudamm hat hier das Wasser in dieser sonst so staubig-trockenen Gegend aufgestaut. Mit uns trottet eine Herde neugieriger Kühe zwischen den Häusern hindurch. Ein Kind beäugt uns aus dem Schatten eines Hauseingangs. Ansonsten herrscht friedliche Stille. Im Wasser waschen ein paar Männer ihre Autos. Jungs und Mädchen planschen ausgelassen. Die ersten Tropfen fallen herab und wir machen uns auf den Weg zurück nach Erbil. 

Kurze Zeit später bricht vollkommene Dunkelheit über uns ein. Wir brausen über Landstraßen durch die Wüste, ringsherum keine Straßenbeleuchtung. Der Regen wird zu einem Sturm, nimmt uns die Sicht. Wir erinnern uns mit flauem Gefühl an die tiefen Baustellengräben, die auf der Hinfahrt ohne Vorwarnung die Straßen zerschnitten haben. Zwar fahren wir eine andere Route, doch wer weiß, wie der Zustand dieser Straße ist? Hinzukommt, dass die Bremsen unseres Toyotas dringend einen Service bräuchten. Eine Vollbremsung bei der Hinfahrt hatte das Auto mit metallischem Kreischen und einem unangenehm weichen Bremspedal quittiert.

Irgendwann passieren wir die erste Straßenkontrolle der Peschmerga, kurz darauf eine weitere. Wir haben es geschafft und sind lebendig im Großraum Erbil angekommen. Es war mehr Glück als alles andere gewesen.

Dukan Lake in Northern Iraq
Cows at Dukan Lake in Northern Iraq
Cows at Dukan Lake in Northern Iraq
Dukan Lake in Northern Iraq
Dukan Lake in Northern Iraq
Dukan Lake in Northern Iraq

Am nächsten Morgen holt uns Abdullah von unserem Hotel in Erbil ab und wir fahren für ein Abschiedsfrühstück in ein Lokal. Seine Frau und kleine Tochter sind ebenfalls hier – allerdings sitzen sie im Familienbereich im ersten Stock. Wir lernen sie nicht kennen. Abdullahs Freund aus Basra ist auch da. Nach dem Essen bringen sie uns an den Busbahnhof, wo wir Abschied nehmen. Über Dohuk fahren wir an die türkische Grenze. Es ist gängige Praxis, dass die türkischen Grenzbeamten die irakischen Kurden sehr genau filzen und lange warten lassen. Etwa sechs Stunden warten wir mit den anderen Reisenden im Bus, bevor wir in die Türkei einreisen dürfen. Entlang der syrischen Grenze fahren wir nach Kızıltepe und von dort nach Diyarbakır, wo wir gegen fünf Uhr morgens ankommen.

Die Reise in das kurdische Irak war so intensiv, so prägend wie keine andere Reise. Die anfängliche Angst vor dem Unbekannten wich sehr schnell einem Urvertrauen in die Gastfreundschaft der Menschen. Zwar gab es immer wieder Momente, in denen wir umringt waren von dutzenden Männern, doch immer wieder gab es jemanden, der uns mit seiner Offenherzigkeit aus der Bredouille zog. Gewiss ist der Irak eine Krisenregion und kein Spaziergang oder Abenteuer für zwischendurch. Doch ist es ein Land, so unglaublich reich an Kultur und Gastfreundschaft, dass es zu schade wäre, es niemals zu sehen.

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