China

2009 reiste Chris mit seinem Opa nach Peking, um sich von dort mit Bahn und Bus nach Bangkok durchzuschlagen. Die Route führte nach Nanning, Hanoi, Ho-Chi-Minh-Stadt und Siem Reap. Obwohl seitdem nur wenige Jahre vergangen sind, waren Fernreisen zu dieser Zeit richtige Abenteuer: In eine fremde Stadt geworfen werden, ohne die Sprache und Schrift zu verstehen – und ohne sich mittels Übersetzungs-App verständigen zu können. Chris hatte vorab wichtige Adressen von chinesischen Bekannten auf Mandarin aufschreiben lassen und zeigte sie den Taxifahrern, die sie nicht lesen konnten oder wollten. Das Leben war noch analog, Internet gab es nur in entsprechenden Cafés in Form von brutal langsamen ISDN-Leitungen. Eine E-Mail alle paar Tage nach Hause musste reichen, um das eigene Wohlbefinden Familie und Freunden mitzuteilen.

Peking 2009 war eine Stadt, die ein Jahr zuvor größte Anstrengungen unternommen hatte, sich der Welt im Rahmen der olympischen Spiele als modern und zukunftsweisend zu präsentieren. Alles, was dieses Bild hätte stören können, war augenscheinlich beseitigt worden. So kam Chris in ein Land, das im Kampf mit sich selbst lag und noch nicht wusste, welcher Weg in die Zukunft der richtige sein würde.

All das prägte Chris ersten Besuch in China. Die Menschen hielten Abstand, Kommunikation war beinahe unmöglich. Der Platz des himmlischen Friedens war einschüchternd als tabuisierter und hochbewachter Ort. Den Sicherheitskräften war alles Fremde suspekt, in den Restaurants aß Chris Speisen, ohne zu wissen, was er da gerade aß. Nun wollten wir ein weiteres Mal nach China, diesmal nach Shanghai. Wie würde sich das Land verändert haben?

Memorial hall for Chairman Mao
Bejing At Night
Bejing West Railway Station
Bejing West Railway Station

15 Jahre später. Wir haben uns entschieden, Shanghai zu besuchen. Auf dem Rückweg von Taiwan kommend haben wir vier Tage eingeplant, um die Stadt und das Umland kennenzulernen. Der Regen wird uns einen Strich durch die Rechnung machen, sodass wir Zeit im Hotelzimmer und in seelenlosen Malls totschlagen müssen. Ein Tagesausflug raus aus der Stadt fällt ins Wasser.

Schon die ersten Momente und Eindrücke in Shanghai zeigen uns, dass China ein modernes Land ist, dass in vielerlei Hinsicht vieles anders, vielleicht auch besser macht als Europa. Der öffentliche Nahverkehr ist perfekt und zuverlässig organisiert. Die Stadt ist sicher und sauber. Der mehrspurige Verkehr rollt – dank elektrobetriebener Fahrzeuge – beinahe geräuschlos an uns vorbei. So stürzen wir uns am ersten Morgen sofort in die chinesische Kultur und besuchen den Yu-Garten – eine vor rund 500 Jahren wunderschön angelegte Außenanlage, die wohl einst einem hohen Beamten gehört hatte. Besucherströme schieben sich durch die verschlungen angelegten Pfade. Das alte Wohnviertel wurde renoviert, Souvenirshops und Essensstände sind eingezogen. Es ist ein unverfänglicher Ort, ohne große Geschichte, ohne Widersprüche, ohne Makel. Er taugt ganz wunderbar für einen Sonntagsausflug, Selfies vor den Zierteichen, Mitschwimmen und Tragenlassen.

Yu Yuan Garden
Yu Yuan Garden
Yu Yuan Garden

Shanghai zeigt sich uns als innovative, saubere, grüne und offene Stadt. Überall ist es friedlich, die Menschen scheinen in Harmonie zusammenzuleben. Die grünen Parkanlagen sind sorgfältig bewässert und gepflegt. Als Touristen bekommen wir renovierte Häuser mit hippen Ladengalerien zu sehen, wo früher Arbeiter auf kleinstem Raum wohnten. Der Blick hinüber zum Finanzviertel Pudong macht klar, in welch himmelsstrebender Position sich Shanghai auf dem weltweiten Geldmarkt sieht. In den Boden werden Löcher gegraben in der Größe ganzer Stadtviertel. Bauzäune verbergen die Zukunft, die hier entstehen soll. Zwischen Glas und Beton, Starbucks und Shoppingmalls, wird in alten Schubladen nach chinesischer Tradition und Kultur gesucht – irgendetwas, was man hervorkramen und der Welt als einen eigenen, chinesischen Charme verkaufen könnte.

Tianzifang in Shanghai
Gucheng Park in Shanghai
Renmin Road in Shanghai
Traffic Officer in Shanghai
Silver Smith in Shanghai
Selfie Addicted in Shanghai

Die Nanjing Road ist ein Fluss von Menschen. Sie ist die Lebensader der Stadt, fließt vom Volkspark ans Ufer des Huangpu-River. Man könnte sie auch symbolisch lesen: Der Volkspark, das Herz der Einwohner, wo Leben und Zusammenkunft, Freizeit und Bildung stattfinden, führt über die rasante, kommerzielle, verführerische, lustvolle und irdische Nanjing Road an ein Ende voller Reichtum und Innovation. Englische Gebäude aus der Kolonialzeit bestimmen das Bild des Stadtviertels. Die Prostitution und das Glücksspiel wurden aus den dunklen Nebenstraßen vertrieben. Dafür kamen Luxusmalls, so wie sie sich in all die schönen und interessanten Städte der Welt einschleichen und sie mit Konsum durchdringen, zerfressen und als langweiligen, halbverdauten Brei auswürgen.

Die Nanjing Road endet am Wasser. Der Fluss spült all den Dreck mit sich. Der Fluss ist die Grenze zwischen dem historischen Shanghai und der modernen Pudong-Sonderwirtschaftszone. Wir laufen den Bund, die Uferpromenade, entlang. Das Panorama mit der Skyline der höchsten Wolkenkatzer der Erde ist atemberaubend. Polizisten und eine unzählbare Anzahl von Kameras haben jeden unserer Schritte im Blick. Die Fassade dieser schönen neuen Welt muss erhalten bleiben. 

Nanjing Road in Shanghai
Skyline of Shanghai
Skyline of Shanghai

Nach all den Superlativen und der konsumorientierten Nanjing Road brauchen wir etwas Ruhe und finden Spiritualität im Jing’an Tempel. Der weitläufige Innenhof ist vom Rauch der Räucherstäbchen erfüllt. Besucher werfen Münzen in hohen Bögen in einen riesigen Schrein. Demjenigen, der in den Kessel des Schreins trifft, ist großes Glück versprochen. Wir treffen beim zweiten Versuch.

Plötzlich ertönen Gongschläge und Menschen eilen herbei. Große, rote Papiertüten werden in einer Feuerstelle verbrannt. Schwarzgekleidete Mönche haben sich in zwei Reihen versammelt und begleiten mit einfachen Schlaginstrumenten den Ritus. Über all dem Treiben wacht eine goldene Buddhastatue mit angedeutetem Lächeln auf den Lippen.

Jing'an Temple in Shanghai
Jing'an Temple in Shanghai
Jing'an Temple in Shanghai
Jing'an Temple in Shanghai
Jing'an Temple in Shanghai
Jing'an Temple in Shanghai
Jing'an Temple in Shanghai

Der People’s Park ist ein Ort der Zusammenkunft. Chinesischer Alltag zeigt sich hier am besten. Wer am Wochenende kommt, erlebt all seine Facetten. Familien mit Kindern, aber vor allem Paare, Singles und Rentner schlendern die geschwungenen Pfade entlang. Manche trainieren Kung Fu, andere chinesische Choreographien. In einem schattigen Pavillon proben Musiker. Eine alte Dame rezitiert Verse am Ufer eines kleinen Teichs. Es gibt Fahrgeschäfte für Kinder, einen Starbucks für Trendbewusste, einen Heiratsmarkt für Singles. Vermittler haben vor sich dutzende Zettel ausgebreitet. Darauf stehen all die beeindruckenden Eigenschaften der nach Liebe Suchenden Männer und Frauen. Die meisten von ihnen sind einsame Rentner, doch es gibt auch Jüngere unter ihnen. Das Gedränge hier am Heiratsmarkt ist riesig. Es scheint, als leide die chinesische Bevölkerung an Vereinsamung.

Am Rande des Parks befinden sich das Stadtplanungsmuseum und das Shanghai-Museum. Vergangenheit und Zukunft sind hier dehnbare Begriffe, die Darstellung der Gegenwart ein Zusammenschnitt der Superlative. Alles verläuft in den besten Bahnen auf dem Weg in eine goldene Zukunft.

Shanghai People's Park
Shanghai People's Park
Shanghai People's Park
Shanghai People's Park
Shanghai People's Park

Mit der Metro fahren wir rüber auf die andere Seite der Stadt – nach Pudong. An diesem Wochenende sind die Schnellstraßen zwischen den Wolkenkratzern leer. Weit über 600 Meter ragen die höchsten Türme hier in die Luft. Der ikonische Oriental Pearl Tower aus den 90er prägt die Silhouette seiner Stadt wie wohl kaum ein anderer Wolkenkratzer. Jeder dieser Türme eine Machtfantasie, erektile Gebilde, in Beton gegossene Superlative. Von der Abendsonne rot beschienen, vom Kunstlicht bunt verziert. 

Skyline of Shanghai
Oriental Pearl Tower in Shanghai
The World's Tallest Skyscrapers, Shanghai

Der Fahrstuhl bringt uns zu nie erreichter Höhe. Allein die Besucherplattform des in Dubai stehenden Burj Khalifa ist noch höher.

Vom Shanghai Tower aus sehen wir die Schleifen, die der Huangpu River durch die Stadt zieht. Wir sehen die Wolken und den Smog, die eine Glocke über der Stadt bilden. Wir sehen die Baustellen, die wie Pockennarben das Stadtbild prägen. Wir sehen Wohnviertel, die wohl nur hohen Beamten zustehen dürften – mit gepflegten Grünanlagen und Gemeinschaftspools. Wir sehen Autos und Schiffe und Flugzeuge und Menschen. Wir sehen Shanghai, sehen kein Ende, sehen nur Bruchstücke, fantastische Dioramen. Alles beschienen in den Pastelltönen der untergehenden Sonne.

Shanghai World Financial Center
Pudong, Shanghai

Wir haben es rechtzeitig zum Sonnenuntergang zum Bund geschafft. Mit uns drängen sich Teenager für ein Selfie und Brautpaare für ein romantisches Hochzeitsfoto an das Geländer zum Wasser. Die gegenüberliegenden Türme leuchten in allen Farben. Es ist schön, es ist spektakulär, aber es ist nichts, was uns andere Städte nicht auch schon gezeigt haben. Shanghai, das ist eine gewiss beeindruckende Stadt. Aber allen voran ist es eine große Stadt. Vielleicht ist genau deshalb Shanghai so beliebt bei Reisenden. Sie finden hier im Fremden das Bekannte. Manche Straßen ähneln mehr London oder Paris, die bunten Farben der Skyline könnten auch einen nordamerikanischen Nachthimmel erleuchten. Das Gefühl, wirklich in China zu sein, haben wir hier nicht.

Skyline of Shanghai
Skyline of Shanghai
Skyline of Shanghai

Shanghai ist China light. Es ist ein guter Einstieg, um dieses riesige Land anzutesten. Vor allem aber ist es ein einfaches, williges Reiseziel, das Eindruck machen und gefallen möchte. Es ist ein internationales Aushängeschild für Chinas Fortschritt. Was die teure und versmogte Hauptstadt nicht kann, soll Shanghai richten. Man kann nur staunen, was hier alles erstaunlich gut funktioniert – insbesonder, wenn man aus dem alten Europa kommt. Und doch lässt einen diese Stadt spüren, dass Fortschritt und Zukunft nicht unbedingt zum Wohle des Menschen erreicht werden müssen. Es geht allein um das Ziel, der Erste zu sein.

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